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ZEIT-Serie: Mit eigener Hände Arbeit, Folge 8
Menschen, die das Land am Laufen halten
Wer über die Gesellschaft debattiert, sollte den Arbeitsalltag ihrer Menschen kennen.
Vorerst letzter Teil einer ZEIT-Serie
Einer, der Glück verkauft
Der Zoohändler Stephan Wulfhorst erfährt, wonach
sich Menschen sehnen, die sich Haustiere zulegen
VON ANNE KUNZE
Zoohändler – so wie Stephan Wulfhorst seinen Beruf versteht, ist das die falsche Bezeichnung. Der Besitzer des Berliner Zoogeschäfts Fridolin sagt, er handele nicht mit Tieren. Beziehungen stelle er her. Seinen Laden hält der 59-jährige für so etwas wie eine Kontaktbörse. Hierher kommt, wer jemanden mit einem bestimmten Profil kennenlernen möchte: ein kuscheliges Kaninchen, einen treuen Hund, eine eigensinnige Katze. Von den Tieren, sagt Wulfhorst, werde eine wortlose Form der Zuneigung erwartet. Mal 40, mal 50 Kunden betreten jeden Tag das Geschäft. Kunden? Glaubt man Wulfhorst, dann sind es Menschen, die oft etwas Entscheidendes im Leben vermissen.
Da, wo die Zoohandlung steht, hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert. In das frühere Schreibwarengeschäft gegenüber ist eine Schnellbäckerei gezogen, der Fleischer hat zugemacht. In der ehemaligen Schneiderei ist jetzt ein Wettbüro, in einem bekannten Nachtclub eine Shisha-Bar. Nur der Zooladen hat sich nicht verändert. Seit 31 Jahren steht das Geschäft an einer Hauptverkehrsachse am Mierendorffplatz in Berlin-Charlottenburg. Als alles anfing, war Stephan Wulfhorst 27 Jahre alt, ein Studienabbrecher, der seine Abende in der Kneipe verbrachte.
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Betritt man seinen Laden, lässt man den Lärm der Straße hinter sich. Hinter dem Schaufenster zirpen und zwitschern und zetern die Vögel. Auch das Grau von draußen ist plötzlich verschwunden. Grün ist das Heu in den Kaninchenkäfigen, grün das Katzengras, das in Töpfen wächst. Bis unter die Decke ist der nicht einmal 30 Quadratmeter große Raum vollgestellt mit Futter, Käfigen und Spielzeug. Die Sonnenstrahlen, die durch die Gitterstäbe der Käfige schraffiert werden, tauchen Wulfhorsts Welt in ein schummeriges Licht.
Stephan Wulfhorst steht ruhig an seinem Tresen, neben einer alten Waage, auf der er das selbst gemischte Futter abmisst. Abwartend schaut er seinen Kunden entgegen, eine schmale Gestalt in Hosenträgern, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt. Er ist aufmerksam, aber nicht aufdringlich. Nie sieht man ihn sitzen, essen oder trinken.
Einige Menschen, die in sein Geschäft kommen, haben sich vorher gründlich informiert, manche haben sogar Tests im Internet gemacht, deren Fragen so klingen, als hätten Partneragenturen sie entworfen. »Welches Haustier passt zu mir?« Viele wollen von Wulfhorst einen Rat.
Da ist die Frau, die herausfinden will, welches Tier bei ihr und ihren »Babys«, wie sie sagt, gut aufgehoben wäre. Für die »Babys« habe sie zu Hause in der Wohnung bereits den Erker hergerichtet. Behutsam fragt Wulfhorst nach den Eigenschaften der »Babys«, schaut sich etliche Fotos im Handy der Kundin an, das diese ihm hinhält. So stellt er fest, dass es sich bei den »Babys« um Zebrafinken handelt. Der Kundin verkauft er zwei Kaninchen.
Da ist die Polin, die ihren Sohn als Dolmetscher mitbringt und eine Transportbox sucht, in der sie ihren »Liebling« in die Heimat bringen kann. »Liebling« nenne sie ein »großes Kaninchen, es pinkelt sehr viel«, wie der Sohn sagt. Wulfhorsts größte Box erscheint der Polin nicht komfortabel genug.
»Viele Kunden kommen auch, um zu plaudern«, sagt Wulfhorst. Wie die ältere weißhaarige Dame, eine ehemalige Lehrerin, die Tag für Tag viermal hereinschaut. Für sie hält Wulfhorst einen Stuhl vor dem Tresen bereit. Dort sitzt sie oft eine halbe Stunde lang. Während Wulfhorst Futter mischt, unterhalten sich die beiden, ein Gesprächsfluss aus alten Büchern, Filmen, Vögeln und den Royals, in den sich das Gezwitscher der Sittiche und Kanarien mischt.
Der Zooladen ist das, was der Schriftsteller Franz Hessel einen Kramladen des Glücks genannt hat. Hessel meinte damit das Leben, es spiegelt sich auch in Wulfhorsts Alltag. Er betreibe seinen Laden »besonders für die kleinen Leute«, sagt er. Es sind Menschen, die erledigen, »was so anfällt im Kiez«. Sie füllen in Supermärkten Regale auf, fahren Straßenbahnen, kellnern in Kneipen. Einige leben von Sozialhilfe. »Einmal kam eine Frau rein und erkundigte sich, ob die neue Winterkollektion für Hunde schon eingetroffen sei. Die hatte sich verlaufen«, sagt Wulfhorst.
Stephan Wulfhorst ist kein herausragender Geschäftsmann, aber er hat gelernt, gut zuzuhören. Er verkörpert das, was Menschen von einem Hausarzt erwarten, der sich für sie Zeit nehmen und für mehr zuständig sein soll als für die körperliche Behandlung. Wulfhorst liefert Futter nach Hause, wenn gebrechliche Kunden die Treppen nicht mehr hinunterkommen. Er ist da, wenn einem Vogel die Krallen geschnitten werden müssen. Manche Kunden bitten ihn zu sich, wenn bei ihnen der Wasserhahn klemmt. Stephan Wulfhorst repariert ihn dann.
Über Menschen hat der Zoohändler mindestens so viel gelernt wie über Tiere. Ratten zähmt man, indem man sie mit Joghurt aus der Hand füttert. Kaninchen muss man entschlossen gegenübertreten. »Sie sehen lieb und kuschelig aus, sind aber kompliziert.« Manche seiner Kunden müssen vom Sofa aufstehen, sobald ihr Kaninchen ins Wohnzimmer hoppelt, sonst fängt es gewaltig an zu kratzen. Es will selbst auf die Couch.
Sind Tiere komplizierter als Menschen? Wulfhorst ist sich da nicht mehr so sicher. Kinder kommen zu ihm, um Tiere zu streicheln. Ältere kommen, um einen Gesprächspartner zu finden, oft einen Vogel. »Mit dem leben sie dann in vollständiger Symbiose«, sagt Wulfhorst. Der Vogel sitzt auf ihrem Kopf, auf dem Esstisch steht seine Futterschale neben dem Geschirr. Ein Kunde erzählte ihm, er würde den ganzen Tag in der Kneipe verbringen, wenn er seine Wellensittiche nicht hätte. Wulfhorst sagt: »Tiere sollte es für ältere Menschen auf Rezept geben.«
Die Deutschen lieben Wellensittiche. Sie sind ihre Hofnarren, schelmische Unterhalter. »Den ganzen Tag machen sie Faxen«, sagt Wulfhorst. 5,3 Millionen Ziervögel leben in 1,6 Millionen Haushalten – ein kleiner Teil der insgesamt 34,3 Millionen Haustiere, die in Deutschland gehalten werden. Aber die Liebe zu Vögeln ist groß, auch zu denen, die im Freien zu Hause sind. Davon zeugt der riesige Absatz von Futter für wilde Vögel. Das Futter verstreuen Menschen auf Balkonen, in Hinterhöfen und Schrebergärten, auf jedem Fleckchen Grün, das sie finden.
Manche Menschen glauben, dass Liebe sich beim Essen zeigt. »Die meisten Haustiere sind verfettet«, sagt Wulfhorst. Die Leckerlis für Wellensittiche nehmen in seinem kleinen Geschäft ein ganzes Regal ein. Viele Menschen übertragen ihre Ernährungsgewohnheiten auf Tiere. Zurzeit verlangen sie oft Futter, das zuckerfrei ist und biologisch erzeugt wurde. Früher bekamen Hunde zur Belohnung Zuckerdrops, heute gibt es Rinderschlund.
Am Futter verdient Wulfhorst mehr als am Handel mit Tieren. Ein Zwergkaninchen, das er für 15 Euro bei einem privaten Züchter kauft, verschlingt pro Woche elf Euro, das sind seine laufenden Kosten. Er kann das Kaninchen aber nur für 40 Euro verkaufen. Ist das Tier nach zwei Wochen noch immer im Laden, zahlt Wulfhorst drauf. Gäbe es das Tierfutter nicht, das höhere Gewinne abwirft, hätte er wahrscheinlich schon aufgeben müssen.
Wulfhorst hat viel gelernt, zum Beispiel, dass viele Menschen ihre Tiere verwöhnen wollen. Deswegen hat auch die Idee mit den Chinchillas nicht geklappt. In den achtziger Jahren wurden sie als ideale Tiere für Berufstätige angepriesen, denn sie werden erst abends aktiv. Aber man kann sie nicht verwöhnen. Chinchillas darf man keine Leckerlis geben, bloß Heu und Gemüse.
Wulfhorst und der Zoohandel, das war nicht von Beginn an eine Liebesbeziehung. Weil er nicht zum Militär wollte, trampte er 1977 nach West-Berlin. Er war froh, »aus dem miefigen katholischen Münster rauszukommen«, wie er sagt. Er machte eine Ausbildung zum Buchhändler und begann ein Studium, Mathematik. »Aber ich war faul und ohne Ehrgeiz«, sagt er. Statt zu lernen, jobbte er in einem der Kartoffelläden, die es damals, Anfang der achtziger Jahre, in Berlin noch gab. Nebenan war der kleine Zooladen. Im Scherz schlug Wulfhorst dem damaligen Besitzer vor: Wenn du nicht mehr kannst, übernehme ich deinen Laden. So kam es dann. Wulfhorst nahm einen Kredit auf, 30.000 Mark, und kaufte das Geschäft. Von nun an hieß es Zoo Fridolin – mit diesem Namen im Kopf war Wulfhorst eines Morgens aufgewacht.
»Ich konnte einen Kanarienvogel nicht von einem Wellensittich unterscheiden. Ich hatte noch nie einen Hamster gesehen.« So erinnert sich Wulfhorst an seinen ersten Tag. »Ich hatte nie einen Bezug zu Tieren.« Er litt unter einer Tierhaarallergie. Das änderte sich 2004, als er nach einer Nierentransplantation dauerhaft Cortison nehmen musste. Fragt man ihn heute nach seinem Lieblingstier, fällt ihm keines ein. Mittlerweile leben in seiner Wohnung zwei Wellensittiche und zwei Kaninchen, aber die hat seine Frau angeschafft. Trotzdem sagt Wulfhorst: »Der Gedanke, ob ich etwas anderes machen soll, ist mir nie gekommen.«
Auszubildende und studentische Hilfskräfte springen ein, wenn er mal frei hat, aber meist steht er selbst an seinem Tresen, von Montag bis Samstag. Auch sonntags taucht er im Laden auf, um die Tiere zu füttern. In 31 Jahren, erzählt er, blieb sein Geschäft nur einen Morgen lang geschlossen, weil er am Abend zuvor mit einem Freund zu lange beim Wein zusammengesessen hatte.
»Wenn ich mal Rentner bin, möchte ich die Sprache der Wellensittiche erforschen«, sagt er. »Mich interessiert, was die den ganzen Tag quatschen.« Er hat sich schon erkundigt. Es gebe Computerprogramme, die dafür geeignet seien.
An seinem Laden geht der Trend zu Insekten als Haustieren vorüber, genau wie der Trend zu Reptilien. Nur die Ratten, die eine Zeit lang beliebt waren, hatte auch Wulfhorst im Sortiment. Manchmal schaute ihm sogar eine Ratte aus einem Kinderwagen entgegen.
Auch Wulfhorsts kleine Tierhandlung liegt nicht im Trend. Allein im vergangenen Jahr haben rund 380 Zoogeschäfte zugemacht. Riesige Zoomärkte sind in vielen Städten entstanden. Schätzungsweise drei Viertel aller Zooläden in Deutschland sind inzwischen einem Franchise-System angeschlossen. Waren, die viel wiegen, Katzenstreu etwa, werden meist nur noch im Internet gekauft. Dann schleppen Boten die Pakete die Treppen hoch.
Von allen Lebewesen sind Wulfhorst die Menschen am liebsten. »Sie kommen in den Laden und erzählen«, sagt Wulfhorst. In letzter Zeit berichten viele Kunden, dass ihre Wohnungen an fremde Firmen verkauft werden. Der Kiez, in dem Zoo Fridolin liegt, wurde von Investoren entdeckt. Drei Betonriegel haben sie gerade an die Spree gesetzt, voller Eigentumswohnungen. Wulfhorsts Kunden mussten ihre selbst gezimmerten Kaninchenställe in den Hinterhöfen abreißen. Sie stören die neuen Nachbarn.
Die große Welt dringt in den kleinen Zoo. So wie im Sommer 2015, als sich vor dem Zooladen neugierige Menschen versammelten. Wulfhorst ahnte, wonach sie suchten. Mitte der Neunzigerjahre war er selbst nach Syrien gereist, ein Kunde hatte ihn dorthin eingeladen. Auf den Basaren hing über jedem Stand ein kleiner Käfig, in dem Stieglitze sangen. Wulfhorst erfuhr, dass die Syrer singende Stieglitze genauso liebten wie die Deutschen schelmische Wellensittiche. Den arabischen Namen für die Vögel hatte sich Wulfhorst gemerkt. So verstand er, was die Flüchtlinge aus Syrien wollten, die in Berlin vor ihm standen, ihn anstrahlten und fragten: »Hassoun?« – »Hassoun«, antwortete Wulfhorst und öffnete ihnen die Tür.