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2015 - Artikel in der TAZ

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Am 14.7.2015 schreibt Christian Mentz in der Berliner Tageszeitung "TAZ" einen lesenswerten Artikel über die sozialen Veränderungen im Mierendorffkiez. Beunruhigender Titel: "Der soziale Kitt geht verloren". Zoo Fridolin kommt auch zu Wort.
Text

Der soziale Kitt geht verloren

von Christian Mentz
Im Mierendorffkiez gehen die letzten kleinen Ladenbetreiber in den Ruhestand. Auch Ilona Strugala hat ihre geliebte Schneiderei aufgeben müssen. Das alles hinterlässt schmerzhafte Risse im sozialen Gewebe

Gähnende Leere! Wo bisher die Änderungsschneiderei „Nähstube“ ihre Dienste anbot, ist nur ein leeres Ladengeschäft übrig geblieben. Ein trauriger Anblick und so nützlich wie ein hohler Zahn. Die Nachbarn, unter ihnen auch der Autor, vermissen die Schneiderei gleich um die Ecke vom Mierendorffplatz in Charlottenburg. Ilona Strugala saß hier verlässlich fast jeden Tag hinter der großen Glasfensterfront und hatte für die Passanten meist einen freundlichen Blick übrig. Die Anwohner sah man regelmäßig in der Nähstube sitzen, um beim kleinen Plausch das Neueste aus dem Kiez zu erfahren. Für viele der Nachbarn – Berlin hat über 50 Prozent Singlehaushalte – war Frau Strugalas Lächeln das erste des Tages auf dem Weg zur Arbeit, man kann einen Tag schlechter beginnen. Das wird vielen fehlen. Die Schneiderei gab es knapp 20 Jahre, und ihr Ende fällt in eine Zeit, in der auch andere der wenigen verbliebenen Ladenbetreiber im Kiez das Rentenalter erreichen.
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Es verschwinden allmählich die letzten Spuren des alten Charlottenburg, zumindest was den früheren Reichtum an alteingesessenen Geschäften angeht. Bis in die späten 80er Jahre gab es hier viele Fleischereien, Feinkostgeschäfte, Boutiquen oder Dienstleister wie Schuster und Schneider, wie sich Frau Strugala erinnert. Die Schneiderin kennt den Kiez noch länger, seit den 70er Jahren: „Damals hatten die Leute noch ordentlich Geld zum Ausgeben. Die Löhne waren einfach besser!“ Ihr Mann, der Sanitätstechnik gelernt hatte, arbeitete als Fensterputzer, da konnte man gut verdienen. Die Renten waren hoch und die „alten Leute wollten noch mal richtig gut leben“, gerät Strugala ins Schwärmen. Wenn die Alten nicht gerade auf Busreise waren, hätten sie in den Kiezläden kräftig für Umsatz gesorgt. Heute gehen viele bei den Discountern und Supermärkten in Fußnähe einkaufen. Da gibt es Jeans für 9 Euro, die schmeißt man weg und kauft neue, anstatt sie ausbessern zu lassen. Klönen an der Kasse geht dort nicht, das würde einen Aufstand in der Schlange hinter einem provozieren. Die meisten der Supermarktangestellten kommen sowieso nur zur Arbeit in den Kiez und haben sonst nichts mit ihm zu tun. Frau Strugala jedoch wohnt seit 40 Jahren in dem Haus, in dem auch ihre Schneiderei beheimatet war.

Die Schneiderin wusste alles

Wenn jetzt die alten, persönlich geführten kleinen Läden den anonymen Ketten endgültig weichen, dann geht auch sozialer Kitt verloren. Die SupermarktkassiererInnen könnten einem eben nicht erzählen, wer gerade in den dritten Stock eingezogen ist. Oder wer eigentlich die Bauminsel vor der Tür von einer Abwurfstation für Hundekot in einen kleinen, blühenden Garten verwandelt hat. Und welcher Nachbar das Postpaket für einen angenommen hat. Die Schneiderin wusste es. Der Schwund der kleinen Läden, und mit ihnen der des sozialen Nachbarschaftsgefüges, begann nach der Wiedervereinigung, erinnert sich Frau Strugala. „Mit der Wende kam nach 1990 die Arbeitslosigkeit.“ Die betraf nicht nur den Einzelhandel, sie selbst war zu dieser Zeit noch als Industrieschneiderin angestellt: „Wir haben für Karstadt in Wilmersdorf die Kollektionen geschnitten.“ Als die Textilbetriebe entweder in Konkurs gingen oder die Produktion ins Ausland verlagerten, wurde auch Frau Strugala arbeitslos. Und machte ein Jahr später ihre Schneiderei auf. „Damit begann die schönste Zeit in meinem Berufsleben. Die Schneiderei war mein zweites Wohnzimmer, das war ich.“ Und das heißt: viel persönlicher Kontakt, eine lebendige Nachbarschaft, mitten drin im Kiez.

Der typische Mix ist futsch

Heute hat in der Gegend um den Mierendorffplatz der typische Mix aus Spätis, Aufbackbäckereien und Shishabars die alten Läden weitestgehend abgelöst. Das muss nicht schlechter sein – anders ist es schon. Zu den wenigen verbliebenen Alteingesessenen gehören eine sehr alte Bäckerei und ein Zooladen. Zwischen Döner und Solarium wirken sie schon jetzt irgendwie anachronistisch. „Die Umsätze werden kontinuierlich weniger“, sagt Fridolin, der zwar eigentlich Stephan Wulfhorst heißt, aber im Laufe von 30 Jahren sei der Name seiner Zoohandlung „Fridolin“ auf ihn übergegangen. Gerade öffnet er in dem kleinen Laden mithilfe eines ausgefeilten Seilzuges die Ladentür, ohne dafür die Theke verlassen zu müssen. Eine mit Vogelfutter beladene Dame dankt es ihm, eben noch hatte sie erzählt, dass sie keinen zweiten Mann wolle, „meine Freundin hat jetzt schon den zweiten Mann mit Schlaganfall gehabt“.
Als die Kundin weg ist, erzählt Fridolin, wie er als Wehrdienstverweigerer nach Berlin kam und nebenan bei „Kartoffel-Krohn“ jobbte, bevor er das Zoogeschäft übernommen hat. Für ältere Berliner sind die Läden von „Kartoffelkönig“ Krohn eine Legende. Geklönt wird auch bei ihm im Laden ziemlich viel, sagt Fridolin. „Ich misch dann nebenbei Futter, so verliere ich nicht zu viel Zeit beim Quatschen.“ Zwei Straßen weiter hat vor einigen Jahren eine große Tierfutterkette eröffnet, vor allem deren Sonderangebotswochen machen der kleinen Tierhandlung zu schaffen. Fridolin will aber weitermachen, solange es noch geht. Wer aus Zeiten berichtet haben möchte, in denen man in Berlin noch Affen kaufen konnte – Fridolin kann das bieten. Auch er wohnt, wie die Schneiderin, in unmittelbarer Nähe seines Geschäfts.
Rund um den Mierendorffplatz gibt es mehr als ein Dutzend Aufbackbäckereien, inklusive der Brottheken in den Supermärkten und der Schnellbäckerei im U-Bahnhof. Echtes Backhandwerk dagegen findet man noch in der Kaiserin-Augusta-Allee, bei der Bäckerei-Konditorei von Jürgen Banach. „Seit das Haus vor 100 Jahren gebaut wurde, ist hier ein Bäcker“, sagt der Meister stolz. Er steht in der Backstube, seine Frau und eine Angestellte erledigen den Verkauf. Was das soziale Miteinander im Kiez angeht, gibt der Meister einen gemischten Befund ab. Einerseits sei der Umgang der Nachbarschaft miteinander sehr gut. „Man kennt sich, man hilft sich“, sagt Banach, der selbstverständlich auch im Haus seiner Bäckerei wohnt. Andererseits: „Früher haben die Familien gemeinsam zu Abend gegessen und sich das Brot dafür bei ihrem Bäcker geholt. Heute sitzt doch jeder allein vorm Internet und frisst Fertiggerichte.“ Die Veränderung im sozialen Verhalten kann er auch an seinen Umsätzen festmachen. Heute erwirtschafte er 20 Prozent mit Kaffee to go, dem symbolhaften Produkt für die Gesellschaft im Dauerstress. Es freut ihn aber, dass momentan viele junge Familien in den Kiez kämen, die seien aufgeschlossen und an ihrer Nachbarschaft interessiert. Er will noch ein paar Jahre weitermachen. Dass er später einen Nachfolger für die Bäckerei finden wird, glaubt er aber nicht.

Jetzt lieber Schrebergarten

Frau Strugala feierte ihren Abschied mit einer Ladenparty bis spät in die Nacht. Sie und ihr Mann wollen sich nun dem Schrebergarten widmen, „da kennt auch jeder jeden“, und das ist ganz nach dem Geschmack der beiden. Die Räume der Nähstube übernimmt ein Gemeindepsychiatrischer Dienst, der in den letzten Jahren immer mehr Ladengeschäfte in der unmittelbaren Umgebung angemietet hat. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Staat dort mit Diensten substituieren muss, wo gewachsene soziale Infrastruktur verloren geht.

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